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Veronika Schmidt |
Wir treffen täglich etwa 20 000 Entscheidungen. Ist es da verwunderlich, dass wir ab und zu Entscheidungen vor uns herschieben oder lieber andere für uns entscheiden lassen? Oder uns für wichtige Entscheidungen Rat holen? Eben. Das ist alles kein Problem, solange uns bewusst ist, dass die Verantwortung für Entscheidungen bei uns selbst liegt.
Entscheidung und Verantwortung sind Zwillinge. Fast täglich fragen mich Menschen, wie sie sich entscheiden sollen. Meist geht es dabei um schwerwiegende Lebensentscheidungen, die man nicht einfach leichten Herzens fällt. In einer solchen Lebenssituation sind Menschen verletzlich und beeinflussbar. Die besten Ratgebenden sind diejenigen, welche gute Fragen stellen können, anhand derer man seine eigenen Gedanken und Gefühle reflektieren und ordnen kann. Im Laufe meines Lebens habe ich bemerkt, dass viele Menschen lieber Antworten geben als Fragen stellen. Dass Menschen nicht nur gut darin sind, Entscheidungen an andere (eine höhere Instanz) abzuschieben, sondern auch sehr gut darin, Entscheidungen abzunehmen (und sich somit zur höheren Instanz zu erkoren): «Mach es so, dann kommt es gut.» «Mach es auf keinen Fall so, das kommt gar nicht gut!»
«Soll ich mich trennen, soll ich mich scheiden lassen?» Eine Frage, deren Antworten ich als Therapeutin inzwischen zur Genüge kenne: «Du musst zurück. Das ist falsch!» Eine Antwort nach Regeln. Eine Antwort, die vor allem das Unbehagen der Umgebung widerspiegelt, mit so einer Situation überhaupt klarzukommen. Eine Antwort für die «Umgebung». Schnell zu einer Entscheidung gedrängt, damit wieder Ruhe und Ordnung einkehrt in den «Aufruhr». Eine wenig hilfreiche Einmischung in das Leben Betroffener, die mit sich selbst und der Situation ringen. Diese bräuchten ein Gegenüber, das Antworten offenlassen kann. Erst dann können Entscheidungen sinnvoll getroffen werden.
Entscheiden ist ein bewusstes Verhalten, das gelernt werden muss
Wo lernt Mensch Entscheiden und Verantwortung? In der Familie. Familie ist eine Werkstatt für Persönlichkeit. Von Geburt an, Tag für Tag, Jahr um Jahr findet dieses Lernen statt. Wichtige Grundsätze für Eltern, aber genauso auch für Erwachsene, im Umgang mit anderen sind:
Die Voraussetzung für Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit ist Freiheit. Doch in «Freiheit» sind Christen oft nicht gut. Weshalb? Der Psychologe Erich Fromm und der Philosoph und Politikwissenschaftler Karl Popper haben darüber gesprochen, dass es verborgen unter den verschiedenen Ängsten so etwas wie eine Grundangst gibt, die die Menschen gar nicht so genau definieren können. Ein diffuses, verunsicherndes Grundgefühl: die Furcht vor der Freiheit.
Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident Deutschlands, sagte in seiner Rede «Freiheit und Verantwortung – Herausforderungen in einer unsicheren Welt»: «Gott schuf den Menschen mit einer geheimnisvollen Gabe, die kein anderes Geschöpf hat, sondern nur er. Der Mensch kann sich selber erkennen und für sich selber und für andere Verantwortung übernehmen. Er kann das in Liebe tun, er kann es mit Mut tun, mit Ängstlichkeit – aber er ist immer gemeint als der, der diese besondere Fähigkeit besitzt, über die niemand anderes sonst auf der ganzen weiten Welt verfügt: Er kann Verantwortung übernehmen.»
Verantwortung ist ein mächtiges Wort, das erdrücken kann, vor allem, wenn es mit hohen Erwartungen (eigenen und äusseren) verknüpft ist. Doch so eine Erwartungsverantwortung ist nicht gemeint. Gemeint ist Reaktionsverantwortung – die Fähigkeit, verantwortlich auf etwas zu reagieren, das sich einem (positiv oder negativ) in den Lebensweg stellt. Deshalb sollten wir erwachsenen Menschen, aber genauso Kindern und Jugendlichen, diese Verantwortungsübernahme zutrauen.
Das Zuhause als sicherer Ort
Der «Sichere Ort» ist ein stehender Begriff in der Sozialpädagogik. Er umschreibt die Voraussetzung dafür, dass Kinder zu selbstbestimmten, toleranten und kompetenten Erwachsenen heranreifen, die über ein stabiles, ausgewogenes Selbstgefühl verfügen und einen hohen Grad an Selbstwirksamkeit besitzen. Wie können wir das erreichen? Indem wir vor allem einen Ort schaffen, an dem sich Kinder und Jugendliche vorbehaltlos aufgehoben und geborgen fühlen – eben einen sicheren Ort. Entscheidend dafür ist, was Kinder im Alltag erleben. Sicher fühlen sie sich dann, wenn das, was passiert, für sie vorherseh- und vorhersagbar ist. Deshalb sind auch transparente Abläufe, feste Rituale und eine geordnete Umgebung wichtig. Erleben Kinder täglich einen sicheren äusseren Ort, sind sie in der Lage, auch in sich selbst einen sicheren Ort aufzubauen.
Kinder und Jugendliche brauchen aber nicht nur verlässliche Zuwendung. Sie müssen die Abhängigkeit von ihren Eltern und Vertrauenspersonen immer wieder infrage stellen und sich ein Stück weit aus ihr herauslösen dürfen, sodass Raum für persönliches Wachstum und Entwicklung entsteht. Es ist wichtig, dass Kinder solide und verlässliche Bezugspersonen erleben, die auch dann zugewandt bleiben, wenn Kinder Grenzen austesten und provozieren. Sie brauchen diese Form von pädagogischem Widerstand, der sie zwingt, sich mit ihren Impulsen auseinanderzusetzen. Die Kunst als Eltern besteht darin, diese sich wiederholenden notwendigen Ablösungsprozesse zuzulassen und zu ertragen. Der «Trick» ist, diese Auseinandersetzungen und Reibereien nicht persönlich zu nehmen.
Kinder brauchen unbedingt das Gefühl von Autonomie und Selbstwirksamkeit, aber gleichzeitig auch Zugehörigkeit. Sie wollen erleben, dass es uns interessiert, wie es ihnen geht, was sie beschäftigt, was sie sich wünschen, worüber sie sich ärgern. Kinder und Jugendliche sollen davon ausgehen können, dass Lösungen für die alltäglichen Bedürfnisse und Nöte zusammen gesucht werden, sie bestärkt werden: «Du kannst etwas entscheiden, du kannst etwas bewirken, du gehörst dazu, du wirst wertgeschätzt.» Deshalb, und obwohl wir immer wieder versucht sind, sollten wir uns nicht dazu verleiten lassen, Dinge über den Kopf heranwachsender Kinder hinweg zu entscheiden. Gerade der freie Wille ist ein von Anfang an gegebenes Schöpfungsmerkmal des Menschen. Auf dieser Grundlage einer konstanten, berechenbaren Umgebung wird es für Heranwachsende erst möglich, sich weiterzuentwickeln und in der Folge mit Emotionen und Entscheidungen umgehen zu lernen.
Je mehr sich Heranwachsende ernst genommen fühlen und selbstwirksam erleben, desto sicherer fühlen sie sich und umso besser können sie ihre Emotionen verstehen und angemessen mit ihnen umgehen. Deshalb sollten Eltern zugewandt bleiben und gleichzeitig machen lassen; Vorbild sein und gleichzeitig Mitbestimmung ermöglichen; offene Ohren und Arme anbieten und gleichzeitig die Ablösung aushalten. Das befähigt zum Leben. Das gelingt nur in einer Vertrauensbeziehung. Gute Beziehungserfahrungen sind eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung hin zu einem gesunden erwachsenen Menschen, der in aller Freiheit und in Verantwortung für sich gute Entscheidungen treffen kann.