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Peter Höhn |
«Scham begleitet uns ein Leben lang, sie ist Teil unserer menschlichen Existenz», sagt Ernst Gassmann, langjähriger Seelsorger und Ausbildner für Pastoren. Der gesunde Umgang mit der eigenen Schamgeschichte und ein unverstellter Blick in die Bibel helfen zu einem Leben in Würde und Zugehörigkeit.
Vor 14 Jahren wurde ich von christlichen Leitern in Uganda angefragt, Weiterbildungskurse in Seelsorge für einheimische Pastoren und Mitarbeiter anzubieten. In der Vorbereitung wurde mir bewusst, dass ich mich mit dem Thema Scham auseinandersetzen musste, weil – anders als der Westen mit seiner Schuldkultur – Uganda wie alle afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Länder von einer Schamkultur geprägt ist, von einer Kultur, in der Ehre, Zugehörigkeit und das Wahren des Gesichtes oberste Priorität haben. Je mehr ich mich dann ins Thema vertiefte, desto klarer wurde mir, dass Scham auch uns im Westen viel stärker bestimmt, als ich bisher angenommen hatte. Auch im Blick auf mein eigenes Leben ging mir plötzlich auf, dass da oft weniger Schuld, als vielmehr Scham im Spiel gewesen war.
Über lange Zeit meines Lebens hinweg habe ich mit undefinierbaren Schuldgefühlen und diffusem schlechten Gewissen gekämpft. In der Auseinandersetzung mit dem Schamthema wurde mir bewusst, dass es bei vielem gar nicht um Schuld, sondern um Scham geht, und dass vieles mit Erfahrungen in meiner Kindheit und Jugend zu tun hatte. Ich bin in einem kleinen Dorf, in einem frommen Elternhaus und in finanziell bescheidenen, bäuerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Einerseits ein schönes und behütetes Umfeld, andererseits habe ich mich als Teenager oft dafür geschämt, irgendwie nicht so sein zu können wie die anderen Jugendlichen und nicht wirklich dazuzugehören. Zudem war es meinem Vater und meiner Mutter sehr wichtig, was die Leute im Dorf dachten, da wir ja als Christen Vorbilder sein mussten und bei der Mutter auch Menschenfurcht mitspielte. Mit der Entdeckung des Schamthemas und dem, was auch die Bibel dazu lehrt, konnte ich nun anders und hilfreicher mit meinem Innenleben und meinen Emotionen umgehen
Schuld empfindet man, wenn man merkt, dass man etwas ganz konkret Falsches getan hat gegenüber Gottes Ordnungen oder gegenüber Mitmenschen. Scham hingegen fühlen wir, wenn Gefahr besteht oder es tatsächlich geschieht, dass andere davon erfahren und ich deswegen – und auch aus weiteren Gründen – als Mensch abgewertet und von der Gemeinschaft ausgeschlossen werde. Dabei gilt es zwischen Scham, die von innen kommt, und Scham, die von aussen genährt wird, zu unterscheiden. Im letzteren Fall sprechen wir von Schande oder Beschämung.
Innere Scham entsteht als Urgefühl im Menschen schon ab dem zweiten Lebensjahr, wenn wir in unserer Schwäche oder einem Fehlverhalten entdeckt werden oder uns blossgestellt fühlen und dann den Eindruck gewinnen, nun deswegen aus der Gemeinschaft, zu der wir eigentlich gehören möchten, ausgeschlossen zu sein. Scham von aussen entsteht durch Dinge, die uns andere Menschen angetan haben, durch beschämende Worte und Taten wie Mobbing, Missbrauch oder Herabwürdigung in irgendeiner Form, die dazu führen, dass wir uns wertlos fühlen und unwürdig, zur Gemeinschaft dazuzugehören. Doch gerade dieses Dazugehören («Belonging») ist eines der Grundbedürfnisse des Menschen. Wenn immer dieses Grundbedürfnis gestört ist, entsteht Scham, und dies kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Ebenso kann uns Scham im Lauf des Lebens immer wieder und auf verschiedene Art einholen (vgl. Box «Scham – Arten und Ursachen»).
Für mich ist es die Entdeckung, welch grosse Bedeutung die Bibel von der Genesis bis zur Offenbarung dem Thema «Scham und Ehre» gibt – es nimmt wohl ebenso viel Raum ein wie das Thema «Schuld und Gerechtigkeit». Warum haben wir das bisher nicht gesehen? Wohl auch deswegen, weil es in der deutschsprachigen Theologie, die stark von der Erkenntnis der Reformation geprägt ist, kaum behandelt wird. Im Gegenteil, über Jahrhunderte war die Verkündigung in unseren Kirchen und Gemeinden eher von einer Theologie der Schuld geprägt, häufig auch gepaart mit Gesetzlichkeit und Moralin, die beschämen. Sodass die Menschen am Schluss des Gottesdienstes dastanden und dachten: «Was da gefordert wird, schaffen wir eh nie!» Natürlich muss Sünde beim Namen genannt werden, aber dann noch vielmehr der Weg der Barmherzigkeit und Gnade gezeigt werden.
Zunächst unterscheidet die Bibel gesunde und ungesunde Scham. Gesunde Scham empfinden wir, wenn wir jemandem wirklich Unrecht getan haben und uns das klar vor Augen steht. Gesunde Scham treibt uns dazu, um Vergebung zu bitten, wenn möglich, Wiedergutmachung zu leisten und, soweit es an uns liegt, Versöhnung zu suchen. Ungesunde Scham dagegen zeigt sich an diffusen schlechten Gefühlen über mich selbst, an einer undefinierbaren Ablehnung meiner Person, in einer Verneinung des Lebens. Ungesunde Scham hindert mich daran, das zu leben, wofür ich leben möchte, auszudrücken, was ich wirklich fühle, zu meinen Überzeugungen zu stehen und dafür einen eigenständigen, auch unkonventionellen Weg zu gehen. Vor allem hindert mich Scham daran, in echte Beziehungen zu treten und Beziehungen zu leben. Genau bei diesen negativen Gefühlen über mich selbst gilt es hinzuschauen: Was möchte Gott mir zeigen? Was hindert mich wirklich? Was ist es, das mich denken lässt, nicht dazu zu passen? Warum lebe ich nicht, wofür ich leben möchte?
Es lohnt sich, einmal betend aufzuschreiben, wann und wie sich innere Scham und äussere Beschämung in unserem Leben eingenistet haben. Vielleicht erkenne ich auch, wo hinter einer Suchtproblematik oder einem zwanghaften Verhalten eine tiefsitzende Scham wurzelt, aus der Gott mich befreien möchte. Gleichzeitig dürfen wir uns nicht damit überfordern, ein für alle Mal eine allumfassende Befreiung zu suchen. Es geht immer nur einen Schritt um den anderen, um die eine Sache, die Gottes Geist mir jetzt bewusstmacht. Das kann zum Beispiel ein beschämendes Ereignis oder eine schamvolle Phase meines Lebens sein, die ich vor Gott bringen und bei ihm ablegen darf. Ich erinnere mich an ein Ehepaar, das einmal alles Verletzende und Abwertende, das sie während einer schwierigen Zeit ihres beruflichen Lebens erlebt hatten, aufschrieben und dann im Wald verbrannten. Es brachte ihnen nachhaltig Entlastung. Wir werden jedoch gegenüber Scham nie gänzlich resistent werden, denn sie ist Teil unserer menschlichen Existenz. Vielmehr geht es darum, dass wir mit Scham – wie etwa mit Angst – einen hilfreichen Umgang finden und Resilienz entwickeln.
Ich möchte drei wichtige Quellen nennen: Dankbarkeit, Gottes Wort und heilende Gemeinschaft. Viel Scham entsteht aus dem Vergleichen mit anderen. Sich vergleichen ist ein Schamförderer ersten Ranges. Ich selbst habe früher zum Beispiel als Nichtakademiker in der Gesellschaft «studierter Leute» oft Hemmungen gehabt und das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Es dauerte Jahre, bis ich mich auf meine eigenen Qualitäten und die Schätze meines familiären Erbes besann, zum Beispiel auf mein zu Hause erworbenes handwerkliches Geschick. Dankbarkeit ist ein Schlüssel und ich habe in der Seelsorge Menschen oft dazu angehalten, eine Dankbarkeitsliste ihres Lebens aufzuschreiben.
Eine zweite Quelle finden wir in der Bibel, besonders im Meditieren der Person Jesus. Er hat sich vollkommen mit unserer Scham identifiziert und kann uns in unserer Scham zutiefst verstehen. Jesus ist der am schlimmsten Beschämte aller Zeiten. Er hat unsere Scham und Schande ganz auf sich genommen, um uns mit Gnade und Barmherzigkeit, mit Ehre und Würde zu krönen. Es lohnt sich, sich dieses Herzensanliegen Gottes selbst zu Herzen zu nehmen, die Bibel unter diesem Gesichtspunkt von Scham und Ehre zu lesen und auf das eigene Leben wirken zu lassen (siehe Box «Umgang mit Scham in biblischen Texten»).
Schliesslich brauchen wir alle die heilende Gemeinschaft von Menschen. Scham können wir meist nicht allein überwinden. Es tut gut, die eigenen Schamauslöser – innere Scham und äussere Beschämung – mit jemandem zusammen vor Gott zu bringen. Und mitzuwirken, dass christliche Gemeinschaften nicht Orte der gegenseitigen Beschämung, sondern des gemeinsamen Heilwerdens sind.