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Peter Höhn |
Thorsten Dietz spricht im Interview über Schlagseiten und Fallen im Umgang mit der Bibel. Nicht das einzig «wahre» Schriftverständnis ist für ihn entscheidend, sondern das lernbereite Hinhören, Lesen und Ins-Leben-Ziehen der Bibel – und das mutige Weiterglauben aus der Beziehung zu Jesus.
Prof. Dr. Thorsten Dietz, Direktor des Marburger Instituts für Religion und Psychotherapie an der Evangelischen Hochschule TABOR in Marburg, beschäftigt sich mit der Theologie und Praxis christlicher Spiritualität und damit, wie sich religiöse Erfahrung und psychische Gesundheit wechselseitig beeinflussen. Er ist Buchautor von «Sünde. Was Menschen heute von Gott trennt.» (SCM R. Brockhaus, Witten 2016) sowie «Weiterglauben. Warum man einen grossen Gott nicht klein denken kann.» (Brendow Verlag, Moers 2018).
Ich benenne mal die grösste Gefahr und die grösste Chance im Umgang mit der Bibel. Die grösste Gefahr ist eine tief eingeschlichene Haltung der Erwartungslosigkeit. Wenn Menschen kaum noch in der Bibel lesen oder ihr Alltag davon gar nicht mehr berührt wird, ist es eigentlich egal, was sie über die Bibel denken. Sie mögen auch die Bibel noch so hochschätzen und für absolut gültig halten – wenn sie nicht mehr die Erwartung haben, dass die Bibel jetzt und heute ins Leben spricht, hilft das alles nichts. Das ist auch der Fall, wenn Menschen vor allem die Bibel lesen, um bestätigt zu werden, wenn sie immer wieder bei Ihren Lieblingsversen und -gedanken bleiben. Auch so wird man erwartungslos – und nach aussen rechthaberisch.
Die grösste Chance sehe ich in einer immer neu entfachten Neugierde auf den Reichtum und die Vielfalt der Bibel. Wer sich so mit der Bibel beschäftigt, lernt nie aus. Und das ist gut so! Biblische Texte unterbrechen unsere Selbstgespräche. Sie sprengen unsere verengten Horizonte. Daher ist es so wichtig, neugierig zu glauben. Ein solcher Umgang mit der Bibel ist heilsam und befreiend. Denn so wird der zentrale Inhalt der Bibel, Gottes Liebe in Jesus Christus, nicht zum fixen Wissen, sondern immer wieder neu zu einem Geschenk.
Es gibt natürlich sehr unterschiedliche Zugänge zur Bibel. Ich möchte an dieser Stelle von einer zentralen Einsicht ausgehen und von dieser Mitte her nachzeichnen, in welche Richtungen das Verständnis der Bibel einseitig werden kann.
Eine richtige und weit verbreitete Formel bezeichnet die Bibel als Gottes Wort im Menschenwort. Diese Formel ist sehr hilfreich, weil sie zugleich zeigt, wie man auf zwei Seiten vom Pferd fallen kann. Die eine Schieflage tritt da ein, wo ich nur darauf ausgerichtet bin, in allem Gottes Weisung für mich heute zu sehen und die menschliche Seite der Bibel kaum beachte. Gerade im Alten Testament gibt es ja Aussagen zu Themen wie Sklaverei, Todesstrafe, Prügelstrafe – nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene – usw., die für uns heute ziemlich sperrig sind. Andererseits können wir nicht verzichten auf alttestamentliche Linien wie Gerechtigkeit für die Unterdrückten, Sabbatruhe als Unterbrechung der Arbeit, weisheitliche Offenheit für Erfahrungserkenntnisse oder auch ein positives Bild der Sexualität.
Die andere Einseitigkeit wäre die Lektüre der Bibel als eines rein geschichtlichen Dokuments. Man wird dabei sehr viel Interessantes und Erhellendes lernen. Aber je mehr ich die Bibel vor allem historisch verstehen möchte, desto eher verliere ich die Erwartung, dass Gott mir etwas zu sagen hat.
Beides gehört zusammen. Gott spricht. Davon handeln die biblischen Erzählungen. Gott hat gesprochen mit den Vätern und Müttern des Glaubens, durch Machttaten oder auch ganz unscheinbar, in einem stillen, sanften Säuseln (1. Könige 19,13), oder durch eine Eselin (4. Mose 22,28). Gott spricht konkret, zu bestimmten Menschen und durch ganz konkrete Menschen, in vier sehr verschiedenen Evangelien, durch Apostel mit ganz unterschiedlichen Temperamenten; mal begrifflich wie bei Paulus, mal in einer Flut von Bildern wie in der Offenbarung des Johannes. Ich darf die Bibel weder mit Gott selbst verwechseln noch von ihm loslösen.
Man sollte die Frage der richtigen Bibelauffassung nicht überschätzen. Es hängt nicht alles am Schriftverständnis, an den Theorien, mit denen wir glauben, das Wesen der Bibel und ihre Autorität für uns heute erklären zu können. Viel entscheidender ist doch das wirkliche Hinhören, Lesen, Ins-Leben-Ziehen der Bibel! Gläubige diskutieren zu oft, was sie generell über die Bibel denken, und zu wenig, wie ihre konkreten Aussagen in unserem Leben Gestalt gewinnen.
Was ist denn die richtige «Brille»? Ganz schlicht: der Glaube, die persönliche Gottesbeziehung, die «geöffneten Augen des Herzens» (Epheser 1,18). Alle wissenschaftliche Scharfsichtigkeit lässt uns blind bleiben, wenn diese Augen des Herzens verschlossen sind. Es hängt auch nicht daran, dass wir die Botschaft Bibel zu einer richtigen «biblischen Weltanschauung» zusammenfügen. Solche Programmworte führen leicht zu ideologischer Systematisierung, die den einzelnen Texten gar nicht mehr gerecht wird. Vielmehr geht es darum, sich ganz konkret ein Wort bzw. eine Geschichte im Vertrauen und in Liebe gesagt sein lassen.
Historischer Wandel ist eine Tatsache. Im Neuen Testament ist es ja offensichtlich, dass man zur Zeit der römischen Besatzung viele Vorschriften der Thora gar nicht mehr umsetzen konnte. Es gab keinen König mehr, den man auf die biblische Ordnung von 5. Mose 17,14-20 hätte verpflichten können. Die entscheidende Instanz war jetzt der römische Kaiser bzw. seine Statthalter. Jesus und die Apostel stellten sich wie selbstverständlich darauf ein. Und solcher Wandel geht immer weiter.
Wir alle verstehen die Bibel mit unseren heutigen Denkhorizonten, die zutiefst geprägt sind von unserer Zeit. Das gilt für alle Gläubige, egal wie konservativ oder liberal sie sind. Die spannende Frage ist ja: Wie gehe ich mit diesem kulturellen Abstand ehrlich um, ohne die Bibel als Orientierung für die heutige Zeit zu verlieren? Es geht ja nicht grundsätzlich darum, biblische Aussagen heute ganz anders zu verstehen als damals. Auch wäre es viel zu einfach zu sagen: Das Alte Testament gilt heute nicht mehr, das ist abgetan, aber im Neuen Testament ist jede Anweisung wortwörtlich gültig. Denn die Konsequenz davon wäre, dass viele Gläubige immer weniger im Alten Testament lesen und sich das Vorurteil immer weiter vertiefen würde, dass der Gott der Hebräischen Bibel grausam ist. Was wir brauchen, ist ein geschichtliches Verständnis der Bibel, die Einsicht, dass die biblischen Autoren selbst im Lauf der Jahrhunderte bzw. Jahrtausende von Gott zu immer neuen und auch anderen Erkenntnissen geführt worden sind.
Wahrheit ist in der Bibel ein Beziehungsbegriff. Jesus Christus ist die Wahrheit (Johannes 14,6). In ihm kommt alles, was Gott mitteilen möchte, zum Ziel. Er ist das Wort Gottes (Johannes 1,1; Offenbarung 19,13). Und das ist entscheidend für den Umgang mit der Bibel insgesamt. Der Hebräerbrief beschreibt das ganz wunderbar: Gott hat vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet zu den Vätern durch die Propheten und hat zuletzt in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn (Hebräer 1,1f.). Jesus Christus ist Gottes letztes Wort. Das ist nicht einfach chronologisch zu verstehen, Jesus ist Gottes letztes Wort als Erfüllung, als Ziel, als Pointe.
Gott allein ist ewig. Sein Wort ist stets zeitbezogen. Auf dem Weg der biblischen Offenbarungsgeschichte spiegelt sich vieles, was für die damals Angesprochenen selbstverständlich war, wie beispielsweise die Benachteiligung von Frauen, gewaltsame Lösungen in der Erziehung und im Recht, Vernichtungskriege etc. Im Laufe der Offenbarungsgeschichte wird deutlich: Im Lebensgespräch mit seinem Gott wächst Israel zunehmend aus manchen Auffassungen heraus. Manches wurde um «eures Herzens Härte willen» (Matthäus 19,8) Teil der biblischen Texte. Was in den alten Texten steht, wird dadurch nicht einfach falsch. Es geht hier nicht um eine Kritik der Texte, sondern um die Einsicht, dass sich manches als eine Etappe auf dem Weg erweist.
Manchmal hat der christliche Weg sogar über das hinausgeführt, was in neutestamentlicher Zeit noch geboten war. Ein Beispiel: Schon das Alte Testament hat den Umgang mit Sklaven stark reglementiert im Sinne einer möglichst humanen Behandlung der Leibeigenen. Das Neue Testament hat für die christliche Gemeinde festgelegt, dass der Unterschied von Freien und Sklaven nicht mehr ins Gewicht fallen darf (Galater 3,28). Doch an eine Kritik der gesellschaftlichen Institution der Sklaverei denkt im Neuen Testament niemand, auch Jesus nicht (Lukas 17,7-10). Aber irgendwann – und ich finde leider ziemlich spät – haben Christen diese Linie konsequent weitergedacht und gesagt: Es sollte überhaupt keine Sklaverei geben! Ähnliche Tendenzen gibt es in der zunehmenden Anerkennung der Frau als gleichberechtigte Partner der Männer oder in der Entwicklung zur gewaltfreien Kindererziehung. Die Frage ist nicht: Bibeltreue oder Bibelkritik. Solche Alternativsetzungen verraten ein geschichtsloses Denken. Die Frage ist immer: Verlängern und erweitern wir biblische Prinzipien wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit etc. im Blick auf die Fragen unserer Zeit – oder verbleiben wir lieber in den Gewissheiten von gestern?
Manche Vorwürfe gegen Worthaus waren sehr pauschal und verallgemeinernd. Ein konsequent bibelkritisches Konzept, dass es keine Offenbarung und keine Wunder gäbe oder dass die historischen Berichte der Bibel weitgehend unglaubwürdig seien, wird von keinem einzigen Worthaus-Redner vertreten. Eine Bibelauslegung mit solchen Prämissen würde Theologie auf Religionsgeschichte, wenn nicht reine Religionskritik, reduzieren – und sich mittelfristig überflüssig machen.
Natürlich gibt es unter den bisherigen Sprechern bei Worthaus ein ziemlich breites Spektrum von Auffassungen. Selbstverständlich sind kritische Anfragen an bestimmte Vorträge und konkrete Aussagen nicht nur legitim, sondern willkommen. Wir brauchen Diskussion und auch mal Streit. Aber wer solche berechtigten Anfragen dazu verwendet, ganz grundsätzlich vor einer «Worthaus-Bewegung» oder einer «Worthaus-Theologie» zu warnen, wird unsachlich. Eine einheitliche Worthaus-Ideologie für sämtliche Fragen gibt es nicht mal in Ansätzen. Bei Worthaus freut man sich über mündige Hörerinnen und Hörer, die es verlernen, sich alles Mögliche vorsetzen zu lassen, um es kritiklos zu akzeptieren. Auch bei grundsätzlich anderer Denkweise können freikirchliche bzw. evangelikale Gläubige vielleicht ja auch bei einem liberalen Theologen manches lernen; wie ich mich umgekehrt ja auch freue, wenn ganz freisinnige Christenmenschen entdecken, dass ihnen ihre frommen Geschwister etwas zu sagen haben.
Wenn es um die Wahrheit geht, dann ist das Ziel nicht: Recht behalten! Sondern in der Wahrheit zu wachsen und zu leben. Und in der Wahrheit zu leben heisst, dem Weg der Liebe zu folgen, dem einen und neuen Gebot Jesu (2. Johannes 5!) In der Liebe wird unser Leben wahr.
Daher ist es selbstverständlich, dass sich christliche Gemeinden auch für eine Reihe von ethischen Fragen stark machen. Grosse ethische Anliegen sollte man dabei nicht mit Ranglisten gewichten. Christen stehen für den Schutz des Lebens, vom Anfang bis zum Ende – und für den Schutz der Umwelt, ohne die es gar kein Leben mehr geben kann. Sie treten ein für die Familie, für stabile, verlässliche Wachstumsbedingungen für alle Kinder – und für den Frieden in der Welt, zum Beispiel auch für die Beseitigung von Massenvernichtungswaffen. Nichts davon ist unwichtig oder auch nur nachrangig.
Richtig ist: Kein Mensch kann sich mit allen diesen Anliegen gleichmässig beschäftigen. Es wird immer persönliche Schwerpunkte geben. Vergröbert gesprochen: Die liberale Christenheit ist manchmal in Gefahr, die persönliche Verantwortung im Nahbereich der Familie zu vernachlässigen, die evangelikale Christenheit hat sich lange viel zu wenig um die Lebensbedingungen der Armen oder um Fragen der Ökologie gekümmert. Hier könnten sich alle zuerst selbst prüfen, wo sie bei sich selbst Nachholbedarf entdecken – und zumindest wertschätzen, dass andere sich da engagieren.
Es gibt nicht nur eine falsche Abhängigkeit von Experten, sondern auch eine ungesunde Angst vor ihnen. Ohne die vielfältige Vorarbeit von Experten könnten wir die Bibel gar nicht lesen, es gäbe nicht mal eine Bibel. Jeder, der die Ursprachen Griechisch und Hebräisch nicht beherrscht, liest die Bibel aus zweiter Hand. «Allein die Bibel» (sola scriptura) heisst nicht: «Wir brauchen keine Experten.» Doch, wir brauchen viele Experten. Aber kein einziger davon hat das letzte Wort; das hat die Bibel selbst. Daher ist es ein eher schlechtes Zeichen, wenn manche Gläubige sich nur auf einen sehr exklusiven Kreis ausgewählter Experten verlassen. Man sollte immer wieder mal ganz unterschiedliche Bibelauslegungen an sich heran lassen – und dann wieder die Bibel selbst lesen und sich im Gespräch mit anderen ein eigenes Urteil bilden.
Verstehen ist ein unverfügbares Geschenk. Ich kann nichts dazu beitragen, dass mir etwas als wahr einleuchtet, mich tröstet und fröhlich macht. Der Heilige Geist ist es, der uns erleuchtet (1. Korinther 2,10-16). Kein guter Wille und keine Wissenschaft macht dies überflüssig. Schon daher sollte man mit seinen eigenen Einsichten stets demütig und bescheiden umgehen. Immer gilt: Was hast du, das du nicht empfangen hast? (1. Korinther 4,7)
Man kann das Wirken des Geistes weder produzieren noch völlig verhindern. Menschen können sich allenfalls so querstellen, dass sie das Wirken des Geistes dämpfen (1. Thessalonicher 5,19). Alles zu prüfen ist natürlich eine Lebensaufgabe, eine, die der ganzen Gemeinde und nicht jedem allein gestellt ist. Und entscheidend ist: Wir prüfen unsere Einsichten nicht getrieben von der Angst vor Irrtümern, sondern voller Hoffnung auf das Gute, was es zu entdecken und zu behalten gilt! Wer für sich selbst sagt «Hauptsache, nicht in Irrtümer geraten!», der wird viel Gutes aus Angst vor möglichen Fehlern abwehren.
Die Nachfolger Jesu wurden «Jünger» genannt, ganz wörtlich «Schüler». Gesunder Glaube zeigt sich in der Haltung, gerne zu lernen und ein Schüler zu bleiben, der offen für Neues ist. Das gilt gerade auch für gestandene Christen. Gute Schüler bewahren sich einen Anfängergeist. Sie glauben ihren Lehrern den Satz: Es gibt keine dummen Fragen. Es gibt nichts Gesünderes als eine Gemeinschaft mit Jünger- bzw. Schülergeist.
Lernen heisst aber auch: nicht immer alles vergessen. Es gibt kein Wissenserwerb ohne Wiederholung, ohne Befestigung und Vertiefung des bereits Erkannten. Es ist zum Beispiel sicher nicht gut, wenn wir alle drei Jahre unser Liedgut komplett austauschen. Wir brauchen einen Liederschatz, der uns durch das Leben begleitet. Wir brauchen auch feste Gebete, die wie ein cantus firmus unsere Wege formen: das Vaterunser, der 23. Psalm und andere Psalmen. Wir können viel lernen von der Weisheit der alten Pietisten. Ich beschäftige mich sehr gern und viel mit der Kirchengeschichte. Ich leide daran, wie geschichtslos heute viele geistliche Bewegungen und Aufbrüche sind und bin mir sicher: Je weniger wir uns um die Weisheit der Alten kümmern und alles meinen selbst erfinden zu müssen, desto mehr werden wir erleben, dass wir viele Fehler wiederholen. Natürlich müssen wir uns dann auch den heutigen Herausforderungen stellen, für die es bei den Müttern und Vätern im Glauben keinen Bauplan gibt. Aber vor genau solchen völlig neuen Herausforderungen standen frühere Generationen auch schon immer wieder.