Jesus evangelisierte anders

von Matthias Langhans

Ist das Evangelium heute noch eine «Frohe Kunde» für meinen Nachbarn, Arbeitskollegen oder Schulfreundin? Oder klingt unser «Evangelium» für sie wie eine lebensfremde Theorie? Was, wenn wir nochmals ganz neu von Jesus lernen würden, wie er Menschen in die Nachfolge gerufen hat?

25.02.2020

Persönlich bin ich ein grosser Fan von Paulus und seinen Briefen, vor allem dem Römerbrief, dessen Inhalt Europa durch die Reformation nachhaltig verändert hat. Die Auslegung paulinischer Briefe und Texte hat unser Verständnis des Evangeliums massgeblich geprägt, Gott sei Dank. Und doch hat diese Prägung auch ihre Spuren hinterlassen und zu einem einseitigen Evangelisationsverständnis geführt.

Die Evolution der Evangelisation – von Paulus zu Jesus

Unter Evangelisation verstehen wir heute in erster Linie das Verkündigen und Erklären der Rettungstat von Jesus Christus am Kreuz. Daran ist nichts falsch. Das Evangelium ist Gottes Wahrheit, die Kraft hat und gepredigt, gelehrt, verteidigt und geglaubt werden soll. In einem typischen Text dazu beschreibt Paulus sich als jemand, der das Evangelium bekräftigt und verteidigt (Hervorhebung durch den Autor):

So halte ich es denn für richtig, dass ich so von euch allen denke, weil ich euch in meinem Herzen habe, die ihr alle mit mir an der Gnade teilhabt in meiner Gefangenschaft und wenn ich das Evangelium verteidige und bekräftige (Philipper 1,7).

Vor allem in den letzten drei Jahrzehnten hat man, inspiriert durch das Zeugnis der Apostelgeschichte, versucht, das Verständnis des Evangelisierens zu erweitern. Immer wieder hört man den Satz: «Wir wollen heute Apostelgeschichte erleben!» Man drückt damit die Erwartung aus, dass die Verkündigung des Evangeliums von Zeichen, Wundern, Heilungen und der manifestierten Gegenwart Gottes begleitet sein möge. Und das braucht es tatsächlich dringend – gerade in einer postmodernen und nachchristlichen Kultur, die nichts von einer absoluten Wahrheit wissen will. Sie muss Gott selbst erfahren können, im eigenen Leben, im Alltag, in der Gemeinschaft. Dazu eines von vielen Beispielen aus der Apostelgeschichte, die das Verkünden des Evangeliums mit Zeichen und Wundern schildert:

Sie (Paulus und Barnabas) verweilten nun lange Zeit (in Ikonion) und sprachen freimütig in dem Herrn, der dem Wort seiner Gnade Zeugnis gab, indem er Zeichen und Wunder geschehen liess durch ihre Hände (Apostelgeschichte 4,3).

Es wäre jedoch schade, wenn wir hier stehenblieben. Denn es gibt bezüglich des Evangeliums im Neuen Testament noch mehr Dimensionen zu entdecken. Wenn Paulus selbst im 1. Korinther 11,1 schreibt: Folgt meinem Beispiel, wie ich dem Beispiel Christi, dann sollte unser Blick zumindest auch auf die vier Evangelien und die Person Jesus Christus selbst gerichtet sein. Doch wie können wir seinem Beispiel folgen? Wie hat denn Jesus selbst «evangelisiert»? Was hat er überhaupt unter dem Evangelium verstanden, zu einem Zeitpunkt, da das Kreuz und die Auferstehung noch gar nicht geschehen waren?

Es geht um Soli Deo Gloria

Bevor ich näher auf diese Fragen eingehe, möchte ich noch einen Schritt zurückgehen und die Frage aufwerfen: Was ist eigentlich das letztendliche Ziel des Evangeliums? Im Bewegen dieser Frage habe ich selbst eine Entdeckung gemacht, die mir bezüglich Evangelisation einen ganz neuen Horizont eröffnet hat: Wenn wir nämlich die biblischen Hinweise ansehen, ist Jesus Christus nicht zuerst für uns Menschen gestorben und auferstanden, sondern er hat durch seine unfassbare Liebe (selbst für seine Feinde), durch seinen Tod am Kreuz, seine Auferstehung und die zukünftige Wiederherstellung der Schöpfung Gott alle Ehre zukommen lassen (Philipper 2,11). Oder an anderer Stelle: Gott will uns bis in alle Ewigkeit damit zeigen, wie überwältigend gross seine Gnade ist, seine Güte, die er uns durch Jesus Christus erwiesen hat. (Epheser 2,7). Es ist diese überwältigend grosse Güte und Liebe zu jedem einzelnen von uns Menschen, die sich am stärksten durch Jesus Christus selber – seiner Geburt, seinem Leben, seinem Umgang mit den Menschen, seinem Tod und seiner Auferstehung – gezeigt hat und die uns Einblick in das tiefste Herz Gottes gibt. In Christus ist Gottes Charakter und seine Schönheit klarer, sichtbarer und offensichtlicher als nirgends sonst geworden. Und deswegen schreibt Paulus zu seiner Motivation der Verkündigung des Evangeliums im 2. Korinther 4,15: Ja, unser ganzer Dienst geschieht für euch. Denn Gottes Gnade soll immer mehr Menschen erreichen, damit dann auch eine ständig wachsende Zahl Gott dankt und ihm die Ehre gibt. Darum ist das erste Ziel jeglicher Evangelisation: Soli Deo Gloria (lateinisch: «Gott allein sei die Ehre»).

Anbetung Gottes durch Hingabe unseres Lebens

Wenn wir also «evangelisieren», sind wir Maler, die die Schönheit Gottes in Christus darstellen. Wir sind Musiker, die in den schönsten Tönen den Charakter Gottes erklingen lassen. Wir sind wie eine Braut, die von ihrem Bräutigam begeistert schwärmt. Dieses oft in der Bibel verwendete Bild beschreibt wunderbar unsere Rolle als «Evangelisierende, die in den höchsten Tönen von ihrem Angebeteten sprechen». Bei diesem Schwärmen geht es jedoch nicht allein um Worte, sondern um den ganzen Ausdruck unserer Hingabe – so, wie es jene Frau tat, die ihr kostbares Nardenöl im Wert des Jahresgehaltes eines Tagelöhners auf das Haupt von Jesus goss. Die Frau war eine verschwenderische Liebhaberin, und Jesus hat sie als Zeugin des Evangeliums voll bestätigt, indem er betonte, dass wo immer in der Welt das Evangelium verkündet wird, man erzählen werde, was diese Frau getan habe (Markus 14,9).

Evangelisation ist also nichts anderes als «Anbetung Gottes durch Hingabe unseres Lebens», sei es durch Worte oder durch unser Lebenszeugnis, die beim Empfänger wiederum Anbetung und Dank an Gott auslöst. Dabei sind wir manchmal die Aktiven, die Gebenden, manchmal auch die Empfänger, und es spielt keine Rolle, ob wir Jesus schon seit Jahren nachfolgen oder ihn noch kaum kennen: Alle brauchen wir es immer wieder, dass wir die «frohe Kunde» und das Schwärmen von Jesus Christus, unserem himmlischen guten Vater und dem Geist Gottes, der uns lebendig macht, sowohl von anderen hören als auch selbst weitertragen.

Die Symphonie des Evangeliums

Leider haben wir das Schwärmen von Gott über weite Strecken verlernt, und zu oft spielen wir höchstens unsere «vier Lieblingstöne» des Evangeliums – mit Überzeugung natürlich, aber doch einförmig. Dabei hat die «Gute Nachricht» eine solche Bandbreite an Klangfarben. Klar sollen wir davon reden, dass Jesus gekommen ist, um uns mit Gott zu versöhnen. Dass uns durch seinen Tod am Kreuz neues, ewiges Leben geschenkt wird und wir dort mit Gott in Ordnung kommen (Römer 3,24). Dass damals der Vorhang im Tempel, der zwischen Menschen und Gott stand, zerriss und wir nun freien und direkten Zugang zu Gott haben (Matthäus 27,51). Dass wir nun durch den Glauben an Jesus Kinder Gottes und Teil seiner Familie sind und Gott «Abba (Papa), Vater» nennen dürfen (Römer 8,15).

Aber damit nicht genug: Da erwähnt Petrus in seiner Predigt am Pfingsttag kaum das Kreuz, sondern spricht vielmehr über die Auferstehung von Jesus Christus. Das ist die «frohe Botschaft», die er verkündet (Apostelgeschichte 2,14-36). Auch Paulus schwärmt davon, dass wir einmal den gleichen Auferstehungsleib – einen «Körper 2.0» – haben werden wie ihn Christus als Erstgeborener der neuen Schöpfung hatte (1. Korinther 15). Wow! Und dass nicht nur wir auferstehen werden, sondern die ganze Schöpfung auf ihre Neuschöpfung «hinfiebert» (Römer 8,20-22). Und dass diese Auferstehungskraft bereits jetzt in den Glaubenden durch das Wirken des Heiligen Geistes «durchdrückt» (Römer 15,18+19).

So dürfen auch wir davon schwärmen, was es bedeutet, dass wir mit der Kraft Gottes – dem Heiligen Geist – bevollmächtigt werden (2. Korinther 1,22), dass die Früchte des Geistes an unserem Charakter sichtbar werden und wir mit den Gaben des Geistes den Menschen Gott näherbringen können. Wir dürfen auch davon schwärmen, dass es in der Beziehung mit Gott noch viele Geheimnisse zu entdecken gibt wie etwa jenes, das seit ewigen Zeiten verborgen war und jetzt durch Gottes Geist in uns sichtbar geworden ist – Christus in uns, die Hoffnung seiner Gegenwart (Kolosser 1,25-27).

Doch manchmal müssen wir mit dem Schwärmen viel weiter vorne beginnen – und das mag unser Bild, wie wir das Evangelium verkünden sollen, etwas durcheinanderbringen. Aber es hilft, einmal näher zu betrachten, wie Jesus Christus seine Jünger ganz am Anfang aussandte, um das Evangelium zu verkündigen. Der Kreuzestod und die Auferstehung waren ja noch nicht geschehen und Jesus hatte zur Zeit der ersten Aussendung (Lukas 9,1-6) zu seinen Jüngern noch kaum über seinen Tod und seine Auferstehung gesprochen – das tat er erst später, und die ganze Tragweite davon haben die Jünger ohnehin erst nach der Auferstehung von Jesus begriffen. Was war also das Evangelium, die frohe Kunde, die die Jünger zuerst verkünden sollten? Es war die schlichte Botschaft, «dass das Reich Gottes nahe gekommen ist» (Matthäus 10,7). Das Evangelium war sozusagen die «Weihnachtsbotschaft», dass Gott und die Herrschaft seiner Liebe den Menschen jetzt durch Jesus greifbar und erfahrbar geworden ist. Die Hirten waren denn auch die ersten Evangelisten, die diese «frohe Kunde» verbreiteten, dass der Himmel auf die Erde gekommen ist (Lukas 2,17-18). Dass Jesus Christus geboren worden ist, der «Immanuel» – Gott mit uns (Matthäus 1,23).

Wie hat Jesus evangelisiert?

Davon können auch wir heute lernen. Wenn Jesus sagt, dass wir als seine Nachfolger genauso von ihm gesandt sind, wie auch er vom Vater gesandt wurde (Johannes 20,21), ist es wichtig, dass wir genau hinsehen. An mehr als zehn Stellen in den Evangelien wird berichtet, dass und auf welche Weise Jesus das Evangelium predigte. Spannend daran ist, dass im Gegensatz zu den Briefen oder der Apostelgeschichte ganze Begegnungen von Jesus mit Menschen geschildert werden. Wie ist Jesus verschiedenen Menschen als «Evangelist» begegnet? Was hat er gesagt und wie gehandelt?

Eine erste Erkenntnis ist, dass Jesus immer wieder Menschen eingeladen hat, mit ihm Zeit zu verbringen und an seinem Leben teilzuhaben: Komm und seht!, sagt er zu Andreas und einem anderen Jünger, vermutlich Johannes (Johannes 1,39). Jesus teilt mit ihnen den Alltag, sie erleben seine Beziehung zu seinem himmlischen Vater, sie werden Zeugen davon, wie er mit Menschen umgeht, wie sie geheilt, befreit und – wie zum Beispiel die Frau am Brunnen – im Innersten erkannt und in ihrer Würde wiederhergestellt werden (Johannes 4).

Auch heute interessieren sich gerade kirchenferne Menschen weniger dafür, was wir ihnen von Jesus in der dritten Person erzählen, aber sie sind offen dafür, mit uns Jesus zu erfahren. Warum lassen wir unsere nächsten Freunde und Bekannten, die uns, wie Jesus sagt, aufnehmen (Matthäus 10,11-13) – das heisst, die uns wohlwollend gesinnt sind –, nicht an dem teilhaben, was uns wirklich wichtig ist? Zum Beispiel, indem wir einen Psalm, der uns viel bedeutet, gemeinsam lesen und darüber sprechen, ein für uns kostbares Anbetungslied gemeinsam anhören, einen gemeinsamen Spaziergang durch die Natur machen und kurze Dankgebete zu unserem guten Schöpfergott machen oder für unsere Freunde ein kurzes Segensgebet sprechen, wo sie vor einer konkreten Herausforderung stehen? Oft öffnen sich Menschen für Gott nicht darum, weil sie eine Gebetserhörung erlebt haben, sondern weil sie von unserem natürlichen, vertrauten Umgang mit unserem himmlischen Vater fasziniert sind. Weil sie uns als Schwärmende von unserem Liebhaber erlebt haben.

Eine zweite Erkenntnis ist, dass Jesus immer wieder Leute um sich herum herausgefordert hat: Komm, folge mir nach! (Lukas 5,27; Markus 10,21). Als Gesandte von Jesus sind wir Träger der Gegenwart Gottes und Friedensbringer (Matthäus 10,13) und dürfen, wenn die rechte Zeit dafür ist, Menschen bewusst in die Nachfolge von Jesus rufen. Es geht jedoch nicht in erster Linie darum, dass Menschen das ultimative Bekehrungserlebnis haben, sondern dass sie freudige Nachfolger von Jesus werden, immer mehr erfüllt mit seinem Geist unter seiner guten Königsherrschaft vorwärtsgehen. Dies geschieht Schritt um Schritt und auf diesem Weg braucht es immer wieder Entscheidungen zur Nachfolge, zu ganzer Hingabe – und zum fröhlichen, weisen und mutigen Schwärmen von Jesus, so wie es für unser Gegenüber passend ist und ihn einen Schritt mehr in die Anbetung und den Dank Gottes hineinlockt.

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Text // Matthias Langhans
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