Als kleiner Junge und von vier Geschwistern der jüngste, mit dem niemand spielen wollte, war es mir dann und wann furchtbar langweilig. Auf meine Frage «Was sölli mache?» folgte oft die wenig hilfreiche, sarkastische Antwort: «Am Bode sitze und lache!» Doch mir war nicht zum Lachen. Auch später und mitten im Trubel des Lebens holte mich die Langeweile immer wieder mal ein. Sie wurde mit zum Grund, warum ich als Student anfing, mich für Gott zu interessieren. Ich fing an zu beten, weil ich zutiefst erkannte, dass ich mir selbst kein «Leben» vermitteln und aus mir selbst keinen Sinn ziehen kann.[1]
Meine Gebete um Leben wurden erhört. Nicht immer genau so, wie ich es erwartete, aber im Blick auf die gut vierzig Jahre, die ich mit Jesus unterwegs bin, weit über meine Erwartungen hinaus. Immer wieder habe ich erlebt, wie aus dem Gebet dieses von Gott geschenkte, nicht machbare Leben floss: sei es in meiner Gottesbeziehung, in der Beziehung zu anderen Menschen, im Miteinander bei Campus für Christus, im Erkennen meiner Berufung, aber auch in überraschenden Begegnungen und Erfahrungen des gewöhnlichen Alltags.
Im Buch «Die Hütte» gibt es einen interessanten Dialog, in welchem Jesus dem Protagonisten Mack sinngemäss erklärt, dass es beim Beten einfach darum gehe, «unser ganzes Leben aus der Beziehung mit Gott zu ‹erfahren› und zu gestalten». Gott ist der Lebensspender schlechthin (1. Timotheus 6,13). Bei ihm ist die Quelle des Lebens (Psalm 36,10), und wenn wir beten, öffnen wir diesem göttlichen Lebensstrom die Tür. Darum sagt Jesus zu allen und besonders zu den selbstgenügsamen Menschen: Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an; wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten und mit ihm essen und er mit mir. Es ist ein wunderschönes Bild, das immer wieder Wirklichkeit wird, wenn wir uns echt mit dem Herzen darauf einlassen. Der norwegische Theologe Ole Hallesby (1879–1961) definiert das Gebet mit ebendiesem Bild: «Beten heisst Jesus einlassen.» Denn mit Jesus – der Gott und der das Leben ist (Johannes 1,1–5) – kommt auch dieses göttliche Leben mit seinem Duft und Glanz, seiner Kraft und Weite hinein, wo immer wir ihm durch unser Gebet die Tür öffnen.
Mir gefällt diese Perspektive. Gebet ist dann nicht in erster Linie eine Anstrengung unsererseits, ein Wegbeten von Problemen oder ein verbissenes Ringen um Gebetserhörungen, sondern ein Sichöffnen zu Gott hin, damit an mir und an unserer Gemeinschaft das hier notwendige «Leben aus Gott» geschieht. Das kann sich auf unterschiedliche Weise ausdrücken:
Häufig verändert sich durch unser Beten im Moment nichts Augenfälliges. Aber längerfristig werden wir sehr wohl feststellen, dass unser persönliches und gemeinsames Gebet etwas bewirkt – dass es unser Sein und Tun, unsere Beziehungen, unser Arbeiten und Zusammenarbeiten immer wieder eigenartig wärmt, belebt und erfüllt. Und andererseits, dass ohne Gebet still und leise die Substanz des Lebens entweicht – wie die Luft aus einem Pneu: Routine schleicht sich ein, Beschwertsein, Stress und Dünnhäutigkeit nehmen zu, unser Inneres stumpft ab, wird träge und müde.
In diesem Sinn ist es eine gute Gewohnheit, nur schon mal dieses schlichte Gebet immer und überall zu beten: «Jesus, komme du hier mit deinem Leben hinein – in diese Begegnung … in dieses Gespräch … in diese (schwierige) Beziehung … in mein Chaos mit den Kindern … in meine Arbeit heute … in meine Ferien und meine Freizeit, aber auch in meine Gottesbeziehung und in die Gestaltung meines ganzen Lebens!»
Wie eingangs erwähnt, kann auch das tollste Leben, wenn es nicht von Gott her «belebt» ist, ganz schön langweilig sein. Darum tun wir gut daran zu beten. Aber wer hat es nicht schon erlebt, dass auch Beten – ob allein oder manchmal noch mehr in der Gruppe – mitunter irritierend langweilig ist. So langweilig, dass wir dann doch lieber langweilig leben, als langweilig beten. Doch gerade, weil ich davon überzeugt bin und es immer wieder erfahren habe, dass ohne Gebet auch das Leben auf der Strecke bleibt, habe ich versucht, dem Geheimnis des Betens tiefer auf den Grund zu gehen. Einmal bin ich der Frage nachgegangen: Wofür wird eigentlich gebetet – und wofür nicht? Und wie unterscheidet sich das von meinen und unseren durchschnittlichen Gebetszeiten?
Beim Auswerten aller Stellen zum Thema Gebet im Neuen Testament machte ich einige interessante, zum Teil ketzerische Beobachtungen – hier stichwortartig wiedergegeben:
Zusammengefasst erkennen wir drei Dimensionen, an denen wir unser Gebet immer wieder ausrichten können:
UP – nach oben: Mit Dank, Lob und einem Bibelwort richten wir den Blick auf Gott und seine Verheissungen und beten um die Verherrlichung seines Namens und dafür, dass wir in der Beziehung zum dreieinigen Gott und im Erkennen seines Willens wachsen.
IN – nach innen: Wir beten für unsere Beziehungen, für das Wachsen in der Liebe, für die Einheit in der Leitung und für unser Zusammenleben und -arbeiten als Gemeinschaft.
OUT – nach aussen: Wir beten für unser Zeugnis persönlich und als Gemeinschaft nach aussen in Wort und Tat, Evangelisation, Mission, Diakonie, Kinder- und Jugendarbeit usw.
Diese drei Dimensionen sind eine hilfreiche Leitlinie für unser persönliches Gebet, besonders aber auch dafür, wenn wir zum gemeinsamen Gebet zusammenkommen. Eine einfache, regelmässige Gebetszeit von 30 bis 60 Minuten kann sich etwa an folgendem Ablauf orientieren:
Was können wir darüber hinaus tun, damit unser Gebet nicht Gefahr läuft, langweilig zu werden, sondern im Gegenteil die Teilnehmenden ermutigt und motiviert? Wie können wir als Gemeinde, Gemeinschaft, Gruppe eine begeisternde Gebetskultur entwickeln?
Leitung: Es ist für alle Teilnehmenden hilfreich, wenn Gebetszeiten – ausser im ganz kleinen Kreis – (gabenorientiert) geleitet werden. Als Raster für den Ablauf kann oben genannte Struktur dienen. Beim Leiten geht es jedoch nicht darum, eine Andacht oder Predigt zu halten, sondern den Ablauf zu moderieren, ein Gespür für den Gebetsfluss zu haben und das Gebet thematisch und von der Form her (Plenum, Gruppen von zwei oder drei, Themengruppen usw.) zu lenken. Dazu gehört zum Beispiel auch, liebevoll, aber klar aufs gegebene Thema zurückzuführen, wenn gewisse Beter «abdriften», oder auch mit geeigneten Formen dafür zu sorgen, dass sich alle Anwesenden, nicht nur die Schnellen, Geübten oder «Vielbeter», beteiligen.
Werte: Bei Campus für Christus haben wir für unsere gemeinsamen Gebetszeiten fünf Werte definiert, die uns pädagogisch wichtige Orientierung geben, die wir sichtbar an die Wand geheftet haben, zu denen wir uns bekennen und wozu wir einander immer wieder ermutigen:
Dankend: Wir pflegen eine Gebetskultur der Dankbarkeit und Anbetung, indem wir uns stets vergegenwärtigen, dass Gott die Quelle aller guten Gaben ist und dass es im Letzten immer darum geht, dass Gott verherrlicht und seine Ehre vermehrt wird.
Wahrnehmend: Wir versuchen beim Beten stets wach zu sein im Geist, und zwar auf drei Ebenen:
Daran versuchen wir anzuknüpfen und es im Gebet weiter zu entfalten.
Verheissungsorientiert: Wir halten uns an die Verheissungen der Bibel, beten glaubensvoll vom Wort Gottes her und pflegen damit eine Gebetssprache, die von Freude und Erwartung geprägt ist.
Aktiv: Wir bleiben nicht passiv, sondern tragen zu einer dynamischen Gebetsgemeinschaft bei, indem wir uns schnell und aktiv beteiligen, einander beim Beten bestärken und überhaupt zum gemeinsamen Gebet ermutigen.
Vielfältig: Wir pflegen bewusst eine Vielfalt von Gebets- und Ausdrucksformen ‒ von charismatisch bis liturgisch, von enthusiastisch bis eher leise, von Gebet in kleinen Gruppen bis Plenumsgebet ‒ und bringen uns auch da ein, wo es uns von unserer Persönlichkeit her nicht so liegt.
Rhythmisierung: Eine gute Gebetskultur besteht einerseits aus Gefässen für regelmässiges Gebet, die von der Zeit, dem Ort, und der Länge her möglichst alltagskompatibel sind, zum Beispiel wöchentlich eine halbe Stunde frühmorgens. Daneben lebt gemeinsames Gebet von zusätzlichen, kreativen Initiativen und Aktionen wie Gebetsraum, Gebetswochen, Gebetsnächten, Gebetsstationen nach Gottesdienst etc.
Arbeitsgruppe für Kernauftrag Spiritualität und Gebet: Es kann sich als (Kirch-)Gemeinde lohnen, eine solche Arbeitsgruppe – zu der auch ein Mitglied der Gemeindeleitung gehören sollte – einzusetzen mit dem Auftrag, dem geistlichen Leben der Gemeinde zu dienen, Gebetsaktivitäten zu koordinieren und Angebote zur Vertiefung des geistlichen Lebens bereitzustellen.
Das Trachten des Geistes ist Leben und Frieden. Römer 8,6 bringt nochmal auf den Punkt, worum es beim Beten geht: dass wir uns immer wieder beim Heiligen Geist einklinken und um den Heiligen Geist bitten, dass er uns aus aller Langeweile heraus zu mehr Leben und Frieden führt. Dass er uns davor bewahrt, einem Ideal – auch einem Gebetsideal – nachzueifern, sondern uns da, wo wir als Gemeinschaft stehen, den nächsten Schritt auf dem Weg zu dem Leben zeigt, das Gott uns schenken möchte.
[1] Mehr darüber in meinem Buch «Glauben mit Herz, Leben mit Sinn. Aus der Freundschaft mit Gott leben», SCM, Witten 20154.
[2] Mt 6,9; Eph 1,17–23; Kol 1,9–11; 2,3; 2 Thess 1,11–12; 1 Kor 14,1.
[3] Joh 17,21 ff.; Eph 3,17–20; Phil 1,9–11; 2 Thess 3,2–5; Kol 2,1–2; Heb 13,3.
[4] Mt 9,38; Lk 11,13; Apg 4,29–31; Eph 6,18–20; Kol 4,2–5; 2 Thess 3,1.
[5] Joh 17,9–20; Mt 5,44; Röm 12,14; 1 Petr 3,9.