Gott und unsere Sehnsucht

von Andreas «Boppi» Boppart

Ich glaube, dass wir in den letzten Jahrzehnten wesentliche Teile des Evangeliums von Jesus Christus verloren oder vergessen haben. Es geht darum, neu zu entdecken, wie viel reicher und vielfältiger seine Erlösung ist. Und dass unsere Sehnsucht der Ort ist, wo das Evangelium zutiefst hineinwirken möchte.

22.11.2021

Mich begleiten ganz verschiedene Sehnsüchte durch mein Leben. Einzelne tauchen sporadisch auf, andere begleiten mich über längere Wegstrecken. Manche sind marginal, andere scheinen mir absolut essenziell.

 

Die Gratwanderung
Die prickelnde und schöne Sehnsucht nach einem entspannten Filmabend mit Paprikachips und einem Glas Wein lässt sich wohl am einen Ende dieser Skala einordnen. Am anderen Ende sind die Sehnsüchte beheimatet, die Ausdauer, Warten und Hoffen erfordern und sich je nachdem zu einer herausfordernden Aufgabe des Überwindens entwickeln können. Bei einem unerfüllten Lebenstraum kann der Sehnsuchtsschmerz schon sehr tief gehen.

Wenn wir nun in diesem Heft über einen Gott sprechen, der uns in unseren Sehnsüchten begegnet, gleicht das erst einmal einer Gratwanderung. Auf der einen Seite kann es schnell einmal kitschig-banal werden: Gott als Selecta-Automat, der auf jedes Problem den richtigen Artikel zur Lösung ausspuckt. Auch «Jesus als universelle Antwort auf alle Probleme» klingt hier an. Auf der anderen Seite kann es hart und abgehoben werden: Was interessieren Gott unsere Sehnsüchte? Er hat Wichtigeres im Sinn, er will uns von den Sünden erlösen und ewiges Leben geben – was immer das auch heissen mag und auch wenn das heutzutage da draussen kaum jemand mehr versteht.

 

Das unbefriedete Herz
Trotzdem und genau deswegen plädiere ich leidenschaftlich dafür, unsere Sehnsucht als «Weg Gottes mit unserer Seele» zu entdecken sowie als «Weg zu Gott» anderen Menschen liebzumachen. Nicht, indem wir behaupten, Gott würde alle unsere Sehnsüchte durch eine Instanterfüllung auflösen. Das Unerfüllte existiert, in jedem Leben ist es anderswo verortet. Aber, indem wir aufzeigen und dazu ermutigen, sich von der eigenen Sehnsucht zu Gott hinführen zu lassen, der – wenn man ganz tief gräbt – Urgrund aller Sehnsüchte ist.

Vereinfacht könnte man sagen: Da existiert ein Gott. Ursprung und Schöpfer allen Lebens. Die Sehnsüchte, die wir in unserem Leben spüren, sind alle Ausdruck eines «unbefriedeten» Herzens. Sie sind Folge der fehlenden Gegenwart Gottes in unserem Leben, in unserem Hier und Jetzt. Sie zeigen das Loch, das durch den Wegfall des Ewigen in unser Herz gerissen worden ist – denn dafür wurde es ursprünglich geschaffen. Gott hat uns die Ewigkeit in unsere Herzen gelegt (Prediger 3,11). Der Wegbruch der ursprünglichen Gottesgegenwart hat eben tiefere Spuren hinterlassen, als wir Menschen im Alltag oft realisieren. Was bleibt, ist dieses Loch in unserer Seele, dieses unerfüllte Sehnen, dessen Schmerz wir alle mit unterschiedlichsten Coping-Strategien zu überwinden versuchen.

 

Gottes Angebot
Und da hinein kommt nun Gottes Angebot, unsere Sehnsüchte zu stillen. Wie er das tut, zeigt sich wohl am stärksten in der Person von Christus – in seinem Leben gleichermassen, wie im Sterben. In der Art, wie er mit Menschen umging, wie er ihnen begegnete, wie er sie in ihren tiefsten Bedürfnissen erkannte und ganz persönlich und individuell auf sie einging – all das widerspiegelt diesen Gott, der unsere spezifischen Sehnsüchte kennt und uns da, wo wir sind, abholen will. Das Evangelium ist voller Geschichten, die Mut machen, in unserer persönlichen Suche und Sehnsucht nach Leben nicht allein zu bleiben oder in heimliche «Selbstbefriedung» unseres Herzens abzutauchen, sondern uns an diesen wunderbaren Christus zu wenden, der laut eigenen Worten gekommen ist, um uns das Leben in Fülle zu bringen (Johannes 10,10). Wichtig ist nun – ob wir selbst auf der Suche nach Leben sind oder andere auf dieser Suche begleiten –, dass wir uns bewusstwerden, was denn «Leben in Fülle» für uns bzw. für den einzelnen Menschen in seiner jeweiligen Situation, in seiner Biografie und Persönlichkeit sowie in seiner Kultur, in der er lebt, bedeutet. Und wo und wie die Erlösung, die Jesus Christus gebracht hat, an der Sehnsucht dieses Menschen ansetzen will.

 

Erlösung umfassend verstehen
Genau deshalb haben wir diese Ausgabe dem Thema Sehnsucht gewidmet, denn die Sehnsucht ist untrennbar mit der Erlösungstat von Christus verwoben. Allerdings müssen und dürfen wir erst einmal neu entdecken, wie viel mehrschichtiger sich Erlösung gestaltet, als wir es in christlichen Kreisen über weite Strecken vermittelt haben, wenn wir uns allein auf die Vergebung unserer Schuld beschränkt haben. Doch diese Verkürzung der frohen Botschaft hat Christus selbst nicht gemacht. Allein schon in seiner Antrittsrede in Lukas 4,17ff macht er mit dem Zitat der Jesaja-61-Prophetie klar, dass er gekommen ist, um den Armen das Evangelium zu predigen, den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und um die Zerschlagenen in Freiheit zu entlassen, und um das Gnadenjahr des Herrn auszurufen. Damit spielte er auf das Halljahr an, das jeweils fünfzigste Jahr im Zyklus des Volkes Israel, wenn jeweils Grund und Boden zurück an die ursprünglichen Besitzer ging, Versklavten die Freiheit geschenkt und Schulden erlassen wurden.

Tatsächlich hat Christus mit seinem Leben und Sterben eine umfassende Erlösung für nach Leben und Sinn Dürstende gebracht, die nicht nur über eine rein persönliche Dimension hinausgeht, sondern auch soziale und globale Veränderungen bewirken will wie Gerechtigkeit und Gleichstellung von Unterdrückten, Missachteten, Armen und Unfreien. Die Erlösung von Jesus adressiert das ganze Spektrum menschlicher Sehnsüchte. Die Vergebung unserer Schuld gehört unbedingt dazu, sie ist aber nur ein Bestandteil seiner gewaltigen Erlösungstat am Kreuz.

Wenn wir Erlösung in diesem umfassenden Sinn verstehen und das Evangelium entsprechend ganzheitlich verkünden, kann uns jedoch von zwei Seiten der Wind ins Gesicht blasen.

 

Gegenwind eins
Da höre ich Menschen sagen: «Ach, das mit den Sehnsüchten ist doch nur ein Trick, um letztendlich doch wieder nur die eine Botschaft zu betonen, dass Christus für unsere Schuld gestorben ist und uns vergibt!» Dem würde ich heftig widersprechen. Denn damit sind wir wieder bei den Verkürzungen des Evangeliums, die ich oben und noch ausführlicher im Artikel ab Seite 17 beschrieben habe. Jesus selbst hat nicht nur diesen einen Aspekt der Vergebung gepredigt. Auch lässt sich das Evangelium nicht nur auf das Kreuz beschränken. Wer das tut, wird Jesus nicht gerecht. Matthias Langhans, Teamleiter von Campus für Christus Österreich, weist mit Recht darauf hin, dass Jesus Christus bereits in und ebenso mit seinem ganzen Leben die gute Botschaft verkörpert hat und dass er bereits in seinem Sterben – und nicht erst nach seiner Auferstehung – sagen konnte: «Es ist vollbracht.» Dies macht die Kreuzestat nicht weniger notwendig. Das Leben, Sterben und die Auferstehung von Jesus bilden zusammen die eine gute Botschaft, die aus vielen verschiedenen guten Botschaften besteht. Sie alle zeigen den einen Jesus, wie er individuell an den einzelnen Sehnsüchten der Menschen anknüpft und darauf eingeht: Einem Zachäus in seiner Einsamkeit begegnet er mit Nähe und Freundschaft. Der gekrümmten Frau in ihrer Beschämung schenkt er Würde. Mit der Frau am Brunnen spricht er über ihren Durst nach echtem Leben. Einen Nikodemus holt er ab in seiner Suche nach dem Sinn des Lebens. Wie oft verliert er kein Wort zum Thema Sünde, Vergebung oder Umkehr, sondern nur dort, wo er spürt, dass es dran ist, zum Beispiel beim gelähmten Mann am Teich Betesda oder im Nachgespräch mit der Ehebrecherin! Seine Handlungen sind genauso wenig austauschbar wie seine Heilungen oder seine Gespräche. Situativ hat Jesus seine Zugänge gewählt und in die vorhandenen Sehnsüchte hineingesprochen. Genau diesen Jesus mag ich so sehr.

 

Gegenwind zwei
Ein zweiter Gegenwind warnt: «Halt, wenn Christen beginnen, andere Menschen bei ihren Sehnsüchten abzuholen, werden sie aufhören zu evangelisieren; sie werden nicht mehr von Gottes Rettung aus der Verlorenheit reden und nicht mehr die Busse zur Vergebung der Sünden verkünden.» Bei allem Goodwill fällt es mir schwer, diesen Gedankengang nachzuvollziehen. In meinem Verständnis von dem Gott der Bibel ist es schlicht nicht denkbar, dass eine direkte Korrelation zwischen dem Seelenheil meines Nachbarn und meinem Netflixkonsum besteht. Dass mein Nachbar nicht gerettet wird, nur weil ich mich heute für einen gemütlichen Sofaabend entschieden und nicht mit ihm am Gartenzaun ein tiefes Gespräch geführt habe – das bedient für mich ein sehr ungesundes und unvollkommenes Gottesbild. Natürlich bin ich überzeugt, dass Gott uns in seinen wunderbaren Heilsplan für diese Welt miteinbaut. Er ist es, der rettet, und wir dürfen daran teilhaben. Aber ich bin ebenso überzeugt, dass es ihm um mehr geht, als dass wir eine stereotype Botschaft verkünden, die sich allein auf Vergebung der Schuld und persönliches Seelenheil konzentriert. Bei vielen Christen ist die Motivation dafür ohnehin schon lange weggebrochen. Heute dagegen glauben viele – mindestens ebenso auf der Bibel gegründet –, dass Gott souveräner, gnadenvoller und vor allem unabhängiger von unseren menschlichen Anstrengungen wirkt. Dies ist nicht etwa ein Verlust von Wahrheit, sondern einfach eine gesunde Kurskorrektur und Weiterentwicklung, wie sie im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder stattgefunden hat.

Wenn wir also verschweigen, dass die Erlösungstat am Kreuz noch schöner, farbiger und mehrdimensionaler ist, als wir es oft präsentieren – nur, um die Not und die Dringlichkeit zu erzeugen, dass wie bisher evangelisiert wird –, dann ist das ein sehr schräges Konzept von Wahrheit und Motivation. Die grössere Dimension des Evangeliums schmälert doch in keiner Weise das Kreuz und die Schuld-Vergebungs-Dynamik. Vielmehr öffnet sie den Horizont und malt das Gesamtbild noch schöner.

 

Das ganze Bild gibt die Durchschlagskraft
Es käme doch niemandem in den Sinn zu sagen: «Wir lassen das gesamte Orchester weg, packen Bratschen, Cellos und all die andern Streicher und Musikinstrumente in den Schrank, weil sonst die erste Geige nicht mehr so deutlich klingt.» Tatsächlich wird die erste Geige ja getragen vom gesamten Orchester und sie klingt nicht etwa weniger schön, sondern vielmehr wird die Musik veredelt, da sie erst im Miteinander zu einer wahren Symphonie anschwellen kann. Deshalb sollten wir uns nicht ängstigen, wenn wir über ein ganzheitliches Evangeliumsverständnis nachdenken, sondern vielmehr darf es Freude auslösen, diese Symphonie des Evangeliums in ihrer ganzen Pracht, mit lauten und leisen Tönen, in die Welt hinauszuposaunen. Dadurch schaffen wir Landebahnen für das Evangelium bei Menschen, die beim Wort «Schuld» keinen Berührungspunkt verspüren. Dadurch ergeben sich bei anderen Momente der Umkehr und der Hinwendung zu Gott, weil sie in ihren Sehnsüchten Gottes Erlösungsdynamik erfahren. Und durch ein ganzheitlich verkündetes und gelebtes Evangelium entsteht eine neue Glaubwürdigkeit auf allen Ebenen, wie wir es etwa durch unsere humanitären Ministry-Einsätze schon mehrfach erlebt haben. Dies erst gibt dem Evangelium seine Durchschlagskraft und Glaubwürdigkeit zurück und lässt es in seiner ganzen Schönheit und Wahrheit in unserer Welt aufstrahlen.

 

Noch ein Wort zur «Busse»
Menschen sind nicht etwa uninteressiert am christlichen Glauben – aber eine zu stark simplifizierte Evangeliums-Präsentation von uns Christen genügt ihnen einfach nicht mehr. Dazu gehört auch unser Verständnis des Begriffs «Busse tun», den wir – auch oft verkürzt – nur mit Bekennen von Schuld und Umkehr von moralischem Vergehen verbunden haben. Dabei geht es laut Urtext vielmehr und primär um ein vertrauensvolles sich Hinwenden zu Gott, ein Heimkehren dahin, wo wir eigentlich herkommen und ein Umdenken und Umsinnen. Nun kann je nach Person – und das zeigen die Evangelien sehr schön – die erste Hinwendung zu Gott auch aus ganz anderen Gründen als einem Schuldbewusstsein und dem Bedürfnis nach Vergebung erfolgen. Und je nach Sehnsuchtsdynamik erkennen wir bei den verschiedenen Menschen immer wieder eine andere Facette der Umkehr und des Umsinnens, welche die Begegnung mit Jesus auslöst – und die dann im Lauf des Lebens zu weiteren Schritten des Umsinnens führen wird, wie wir zum Beispiel im Leben von Petrus so schön sehen können.

 

Nach vorne und auf Gott schauen
Es ist Zeit, dass wir Christen uns von Gott neue Einsichten, Worte, Wege und Zugänge schenken lassen, damit wir das Evangelium wieder mit Freude und von innen heraus bewegt in diese Welt hineintragen können. Ich glaube, die Welt lechzt danach. Wir brauchen gleichzeitig weder erstaunt noch besorgt darüber zu sein, wenn bei vielen von uns die Evangelisationsantreiber der letzten Jahrzehnte – genauso wie bei unseren Mitmenschen das Interesse an einem schuldzentrierten Erlösungsangebot – weggebrochen sind. Wir müssen nicht dagegen ankämpfen, dass sich Dinge verändern, sondern darum ringen, dass wir verstehen, wie Gott uns weiterführt. Die richtige Bewegung ist darum hoffnungsvoll nach vorne orientiert – hinein in ein «Revival» eines ganzheitlichen Evangeliums. Im Vertrauen, dass wir auf dieser Reise keineswegs Christus und das Kreuz verlieren, sondern vielmehr all das Verborgene und Wertvolle zurückgewinnen, was uns unterwegs bereits vor vielen Jahren abhandengekommen ist.

Es ist Zeit, dass wir uns neu klar werden, was uns persönlich wirklich antreibt, was unsere echte Motivation sein könnte, das Evangelium in Wort, Tat, Kraft und Liebe mit den Menschen und mit dieser Welt zu teilen, und wie wir dabei an ihren spezifischen Sehnsüchten anknüpfen können. Unsere eigene Sehnsucht könnte dafür ein guter Ansatz sein. Es lohnt sich, ihr neu auf die Spur zu kommen und darüber mit Gott und miteinander ins Gespräch zu kommen. Mich persönlich bewegt dabei am stärksten die Tatsache, dass Gott uns als Botschafter der Versöhnung berufen hat. Was ist es bei dir?

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Text // Andreas «Boppi» Boppart
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