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Graham Tomlin |
Corona hat uns drastisch vor Augen geführt, dass Krankheit, Trauer und Tod uns jederzeit und überall einholen können. Die Krise kann uns aber auch neu die Herzensaugen dafür öffnen, welch gewaltige Hilfe und Hoffnung wir aus der christlichen Geschichte schöpfen.
Ich weiss, ich bin nicht der Einzige, der sich Albert Camus’ Roman Die Pest von 1947 zuwandte, als das Coronavirus zuschlug. Das Buch erzählt vom Ausbruch und Rückgang einer Epidemie in der algerischen Stadt Oran und von ihren verheerenden Auswirkungen auf deren Bewohner. Im Laufe der Geschichte werden die uralten Fragen aufgeworfen, rund um die – wie es der Stadtarzt ausdrückt – «einzigen Gewissheiten, die wir alle gemeinsam haben, Liebe, Leiden und das Exil».
Der örtliche Priester, Pater Paneloux, interpretiert die Pest als das Gericht Gottes über das ungläubige Volk Orans und beschliesst, dass er entweder seinen Glauben aufgeben oder die Pest als Gottes Willen akzeptieren muss – es gibt keinen Mittelweg. Das dachte Camus offenbar auch. Er zieht nicht einmal die Möglichkeit in Betracht, dass Gott gegen die Pest ist, und das sogar noch mehr als die Bewohner der Stadt. Und so wirft er die uralte Frage auf: Wenn Gott allmächtig ist und die Krankheit so hasst wie wir, warum lässt er sie dann zu?
Im Lauf der Jahre haben die Theologen drei allgemeine Erklärungsansätze zum Problem des Bösen verfolgt: Das Böse existiert entweder, weil Gott denkt, dass es in einem übergeordneten, mysteriösen Plan – so dachte Pater Paneloux – in irgendeiner Weise gut für uns ist, oder wegen einer Macht, die in der Welt gegen den Willen Gottes gerichtet ist, oder weil Menschen ihren freien Willen missbrauchen. Mit anderen Worten, die Schuld liegt bei Gott, bei Satan oder bei uns.
Nun, jede dieser Ansichten hat etwas für sich. Wir alle wissen aus Erfahrung, wie Kämpfe und Leiden uns viel lehren können. Dann gibt es andere Zeiten, da wir das Vokabular des Bösen verwenden müssen für das Dunkle und Unmenschliche, das uns zum Beispiel in der kalten Bosheit eines psychopathischen Kinderschänders, in den Konzentrationslagern Nazi-Deutschlands oder im Todeskult des IS entgegenkommt. Und wahr ist auch, dass ein Grossteil der alltäglichen Not, die wir erleben, auf all die Verletzungen zurückzuführen ist, die wir Menschen einander zufügen, sei es durch achtlose Worte, absichtliche Grausamkeit oder schiere Gleichgültigkeit.
Doch keines dieser Argumente befriedigt wirklich. Die Vorstellung, dass Gott absichtlich Krankheit, Tod und Elend sendet, weil es gut für uns ist, ist in einer Covid-19-Station schwer zu akzeptieren. Und nicht jedes Bisschen unerklärlichen, bösen Verhaltens kann dem Teufel angelastet werden. Und drittens ist es schwierig zu erkennen, wie der freie Wille des Menschen die Mutation eines Virus wie des diesen verursachen soll.
Es gibt einen Grund, warum alle drei Argumente keine rationale Erklärung für das Böse liefern: Das Böse ist per definitionem irrational und ohne Erklärung. Es gibt eine lange Tradition des christlichen Denkens, die das Böse als die Abwesenheit oder, genauer gesagt, als die Korruption des Guten betrachtet – eine Art ontologischer Auszehrungskrankheit – wie ein Virus, das die Zellen zerstört, an denen es befestigt ist. Es gibt eine Zufälligkeit des Bösen, die es unberechenbar macht, ohne jegliche Ordnung oder Muster.
Wenn wir also die Frage stellen, warum das Böse existiert, ist das nicht wirklich eine passende Frage. Das Böse «existiert» nicht in dem Sinne, wie Gott existiert, oder du existierst, oder der Bildschirm, den du betrachtest, existiert. Das Böse ist einfach der Prozess der Korruption oder des Zerfalls, der am Ende alles zerstört. Wenn wir also fragen, warum das Böse existiert oder welchen Zweck es hat, kann es keine Antwort geben — das Böse hat keinen Zweck, weil es das Fehlen von Zweck ist. Es kann keine Bedeutung haben, weil es das Fehlen von Bedeutung ist. Es kann keine Erklärung haben, weil es das Fehlen von Erklärung ist. Es kann keinen Sinn haben, weil es per definitionem sinnlos ist.
Infolgedessen kann jeder Versuch, das Geheimnis des Bösen zu erklären, immer nur partiell und unvollständig sein. Wir könnten entscheiden, dass diese Argumente über das Leiden keinen Sinn ergeben, und darum beschliessen, nicht an Gott zu glauben. Aber haben wir damit das Problem gelöst? Krankheit, Trauer und Tod werden anhalten, egal was wir glauben.
Wo könnten wir also Mittel und Wege finden, um durch das Leiden hindurch zu leben und dagegen zu kämpfen? Richard Dawkins schrieb: «Schlussendlich wird das Universum unweigerlich in ein Nichts abgleiten, das nur seinen Anfang widerspiegelt … Zu schade, wenn du nun denkst, das sei düster und trostlos. Die Realität schuldet uns keinen Trost.» Er mag Recht haben, dass wir kein Recht auf Trost, Hoffnung oder Gerechtigkeit haben, aber es macht es nicht einfacher, ohne sie zu leben.
Irgendwie müssen wir doch in der Covid-Station oder im Krematorium Hoffnung finden, denn ohne Hoffnung gibt es nur Verzweiflung, und es ist sehr schwierig, das Leben so zu leben. Die Entscheidung, nicht zu glauben, weil es schwierig ist, einen guten Gott mit der Existenz des Bösen in Einklang zu bringen, mag es einem ermöglichen, sich in die kalte Pose intellektuellen Heldentums zu werfen. Sie hilft aber nicht viel, wenn man einem lieben Freund beim Atemkampf in einem Krankenhausbett zusieht. Irgendwie müssen wir doch die Hoffnung finden, dass Scheitern und Schicksal nicht das letzte Wort haben.
Ich habe unter den Christen noch niemanden getroffen, der behauptet, das Problem des Bösen verstanden und beantwortet zu haben. Trotzdem glauben Christen immer noch. Sie glauben, weil sie etwas so Gutes und Zwingendes entdeckt haben, das sie einfach vom Glauben überzeugt.
Sie haben die Geschichte von einem Gott gehört, der in Jesus Christus in die Finsternis einer Welt eingetreten ist, die sich von Licht und Leben abgewandt hatte. Einem Gott, der das Böse auf sich nahm und es in den Ereignissen, die wir zu Ostern feiern, besiegte. Einem Gott, der uns nun einlädt, Teil der Lösung und nicht Teil des Problems zu werden, dadurch, dass wir uns von unserer Selbstzentriertheit abwenden und immer mehr lernen, nicht nur uns selbst zu lieben, nicht nur unsere Nachbarn, sondern auch unsere Feinde.
Über das Rätsel des Bösen hinaus wächst dabei die Gewissheit, dass Gott nach allem, was schon gesagt und getan worden ist, und auch nach Coronavirus, Tsunamis und Krebs doch gut ist.
Die Christen vertrauen auf diese Güte nicht durch einen Akt philosophischer Verdrehung der Fakten, sondern weil sie diese Güte im Angesicht, in den Händen, im Leben, im Tod und in der Auferstehung von Jesus sehen, und das in einer Weise, die ihnen die Hoffnung gibt, dass er die Macht des Bösen gebrochen hat und sie eines Tages endgültig ausrotten wird. Sie glauben, denn wenn Jesus Christus wirklich der Schlüssel für das Mysterium von «Liebe, Leiden und Exil» ist, dann ist das Geheimnis, das im Herzen aller Dinge verborgen ist, die Liebe, die den Tod, das Verderben und das Böse überwindet.
Deshalb glauben wir Christen. Nicht, weil wir die Antwort auf die Frage nach dem Leiden kennen, sondern weil die Menschen nicht ohne Hoffnung leben können. Und die christliche Geschichte gibt uns eine Hoffnung, die wir nirgendwo sonst finden können.