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Peter Höhn |
«Christliche Meditation ist Nahrung für die Seele. Man muss es erfahren ‒ man kann nicht gut darüber reden», sagt Ruth Maria Michel. Trotzdem hat die geübte Beterin und Leiterin von spirituellen Exerzitien aus ihrem reichen Erfahrungsschatz einiges zu berichten.
Da war ich noch ein kleines Mädchen. Ich bin katholisch aufgewachsen und deshalb war mir das freie Beten damals kein Begriff. Dennoch hatte ich eine Sehnsucht danach, mit diesem Gott, so wie ich ihn damals verstanden habe, zu reden und ihm nahe zu sein. Also habe ich vor dem Einschlafen meinen Rosenkranz gebetet. Ich meditierte auf diese Weise über das Geheimnis des Lebens und das Sterben von Jesus Christus. Oft bin ich während des Betens eingeschlafen. Das war für mich eine sehr schöne Erfahrung.
Ich schätze daran, dass ich gar nichts tun muss. Gerade weil ich eine sehr aktive Frau bin. Mal nichts tun zu müssen ist etwas Besonderes in meinem Alltag. Bei anderen Gebetsformen bin ich mehr gefordert. Bei der Fürbitte zum Beispiel oder beim Singen von Liedern. Beim Meditieren kann ich einfach sein. Ich muss keine «fromme Leistung» erbringen. Zum Beispiel lese ich einen Bibeltext und lasse ihn wirken. Ich muss keine intellektuelle Erkenntnis haben. Der Text kann einfach in mir wirken. Darauf achte ich und komme dann mit Jesus ins Gespräch darüber.
Ich nehme mir ungefähr eine halbe Stunde Zeit. So lange brauche ich, um runterzufahren. Es ist wie bei einem Auto ‒ da schaltet man auch nicht direkt vom fünften in den ersten Gang. Man schaltet Gang für Gang runter. Dasselbe geschieht beim Meditieren. Man sucht sich einen «Meditationsgegenstand», das kann ein Bibeltext sein, eine Zeile aus einem christlichen Lied, ein Gegenstand, ein Bild, eine Ikone oder auch eine Situation aus dem Leben, etwas, das mich beschäftigt, oder eine Entscheidung, die ich fällen muss. Diesen «Meditationsgegenstand» betrachtet man. Man liest den Text immer wieder oder sieht sich das Bild immer wieder an und lässt es auf sich wirken.
Vielleicht, aber das ist nicht das Ziel. Ich versuche wahrzunehmen, was der Gegenstand in mir auslöst. Das kann ein Gedanke sein. Aber auch eine Emotion: Freude? Trauer? Zweifel? Hoffnung? Wut? Unsicherheit? Dank? Nach etwa zwanzig Minuten komme ich mit Jesus über meine Empfindungen ins Gespräch. Ich rede mit ihm von Freund zu Freund. So lehrte es schon Ignatius von Loyola. Nach diesem Gespräch mit Jesus verweile ich einfach noch einen Moment und lasse die ganze Meditation auf mich wirken.
Ich kann schon mal drei Wochen über denselben Text nachdenken. In der Regel so lange, bis ich den Inhalt des Textes in einem Gebet formulieren kann, das ich während eines Atemzugs sagen kann. Diese Art des Betens nenne ich Kontemplation. Im Vergleich zur Meditation ist das ein wortarmes In-, Bei-, Vor-, Mit-Gott-Sein. Ich denke nicht an die Zukunft und auch nicht an die Vergangenheit. Ich bin einfach im Hier und Jetzt. Gerhard Teerstegen umschreibt Kontemplation so: «Schweig dem Herrn und halt ihm still, dass er wirke, was er will.» Das ist nicht ganz so einfach, wie es klingt, weil dann meistens das innere Kopfkino losgeht.
Am besten gelingt das mit dem bewussten Wahrnehmen des Atems. Denn atmen kann ich weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit. Das kann ich nur hier und jetzt. Darum sind sogenannte Atemworte eine gute Hilfe, um ganz in Gottes Gegenwart zu sein. Zum Beispiel: «Ich werde getragen, ich lasse mich tragen.» Wenn mir dann in den Sinn kommt, dass ich noch Wäsche waschen muss, dann bete ich: «Ich werde getragen mit meiner Wäsche, ich lasse mich tragen mit meiner Wäsche.» In der christlichen Kontemplation geht es darum, alles, was in der Stille in mir auftaucht, Jesus Christus zu überlassen.
Die äusseren Formen können sehr ähnlich sein. Das Knien, Sitzen und die Achtsamkeit auf den Atem sind ähnlich. Der entscheidende Unterschied liegt in der Weltanschauung hinter der Meditation. Sehr vereinfacht gesagt geht es bei fernöstlichen Meditationen darum, sich zu entleeren. Das gilt zunächst auch für die christliche Kontemplation. Für Christen ist die innere Leere nicht das Ziel, sondern ein Übergang. Ziel ist die Begegnung mit Gott. Hier kommt Jesus ins Spiel. Aus der Ruhe heraus können wir ihm begegnen, und genau um die Beziehung zu ihm geht es. Ich beschreibe christliche Kontemplation gerne in folgendem Dreischritt: Wahrnehmen, wahr sein lassen, Gott überlassen.
Oft ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Spürbar geschieht in den meisten Fällen gar nichts mit mir. Wir können eine Gottesbegegnung nicht «machen» – auch nicht mit Meditationstechniken. Aber trotzdem sind auch die eher trockenen Meditationen für mich wichtig, um mich auf Gott auszurichten. Nur weil ich Gottes Gegenwart nicht fühle, heisst das nicht, dass er nicht da ist. Im Gegenteil, er ist immer da. Wir dürfen unseren Glauben nicht von unseren Gefühlen abhängig machen.
Nichts. Ich würde sagen, es wäre hilfreich, wenn man zu etwa 50 Prozent in Betracht ziehen würde, dass es einen Gott gibt. Das ist ein guter Start. Für eine erste Meditation empfehle ich dann zum Beispiel den Text aus dem Buch Jesaja der Bibel. Für ein allererstes Mal kann auch eine Anleitung in einem Kurs sehr hilfreich sein. Wer sich dann länger in die christliche Meditation vertiefen möchte, dem empfehle ich stets das Lesen der Evangelien. Wenn man dann während des Lesens auf einen Satz stösst, der innerlich anklingt, kann man diesen gleich für eine Meditation verwenden.
Ich ermutige die Person. In der Bibel liegen viele Versprechen darauf, wenn wir uns Gott nähern. Zum Beispiel: In Umkehr und Stillehalten besteht euer Heil, in der Ruhe und im Vertrauen liegt eure Stärke. Oder: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe verschaffen.
Immer wieder begleitest du Menschen darin, das Meditieren einzuüben ‒ was sind die häufigsten Erfahrungen dabei?
Immer wieder höre ich von den Kursteilnehmern, dass sie eine ganz tiefe, innere Ruhe erfahren haben und ermutigt wurden. Ebenso erfahren viele Wegweisung in Lebensfragen, sie werden dankbar oder schöpfen neue Hoffnung. Einige sagen, dass das Meditieren ihnen einen ganz neuen Zugang zu Gott schenkt.
Die grösste Veränderung, die geschehen ist: Mein Wissen über Gott ist vom Kopf ins Herz gerutscht. Vor allem, was das Thema «Gnade» betrifft. Durch das Meditieren konnte ich verinnerlichen, dass ich das wirklich Wesentliche weder selbst tun kann noch muss. Es kommt von Gott. Weiter wird durch das Meditieren meine Seele genährt. Ich konnte über die Jahre einen riesengrossen Schatz an Bibelworten und Liedern im Herzen sammeln. Durch das viele Wiederholen wurden sie Teil von mir. Nicht zuletzt wurde ich viel gelassener in Bezug auf das Leben.
Vor einigen Jahren hatte ich eine schwierige Operation. Es ging darum herauszufinden, ob ich Krebs hatte oder nicht. Ich erinnere mich, wie ich die Worte aus Jesaja meditierte, bevor mich die Narkose einholte: «Ich werde getragen, ich lasse mich tragen.» Als ich wieder aufgewacht bin, waren die Worte sofort wieder in meinem Bewusstsein. Noch bevor ich überhaupt die Augen öffnete und die Schmerzen wahrnahm. Das war für mich eine schöne Erfahrung. Es war die Frucht von jahrelanger Übung und Gnade Gottes gleichermassen.
Es gibt Zeiten, in denen es mir schwerer fällt, im Alltag Zeit fürs Meditieren freizuschaufeln, ja. Aber das liegt nicht daran, dass mir das Meditieren aus den Ohren hängt. Vielmehr liegt es an den sehr vollen Tagen, in denen es mir manchmal schwerfällt, zur Ruhe zu kommen. Dann betrachte ich es wie eine Übung. Im Üben kann die Kraft erfahren werden. Ich muss dabei nichts fühlen oder erleben. Es ist gut, einfach nur da zu sein. Etwas fromm ausgedrückt: Das ist für mich ein Akt der Liebe und Hingabe an meinen Liebsten, meinen Jesus. Ich drücke so auch mein Vertrauen ihm gegenüber aus.
Ich gebe während des Meditierens alles, was in mir aufsteigt, in die Hände von Jesus. Vielleicht kommt mir eine Person oder ein Problem in den Sinn. Dann bete ich: «Jesus, ich überlasse sie/es dir.» Es hilft mir zudem, mich selbst wahrzunehmen. Empfindungen, die während des Tages vielleicht verborgen blieben, kann ich im Meditieren verarbeiten und ebenfalls in die Hände von Jesus geben.
Nein, gar nicht. Denn wenn ich mich nach innen ausrichte, dann wartet da Jesus Christus auf mich. Beim Meditieren begegne ich Christus in mir, der mich stärkt, tröstet und ermutigt. Aus dieser Begegnung wächst der Wunsch, wieder nach draussen in die Welt zu gehen, Menschen zu begegnen und aktiv zu sein. Die verschiedenen Aktivitäten wiederum treiben mich erneut in die Kontemplation und die Gegenwart Gottes. Denn ich sehe viel Not, Dinge, die mich ärgern, und Ungerechtigkeit. Die beiden Dinge Alltag und Meditation bilden einen Kreislauf und befruchten sich gegenseitig.
Unbedingt. Beim Meditieren richte ich meine Antennen auf das Wesentliche aus. Ich versuche zu erspüren, welchen Weg Gott mich heute führen möchte und welche guten Werke er für mich vorbereitet hat. Während des Tages sind für mich auch spontane, ungeplante Stossgebete wichtig. Diese dauern manchmal weniger als eine Minute. Aber sie helfen mir dabei, auf Jesus ausgerichtet zu bleiben.
Interview: Viviane Herzog